Was ist die Realität?

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Einleitung

Die Wörter „Wirklichkeit“ und „Wahrheit“ werden verwendet, wenn etwas auf uns wirkt oder wir etwas wahrnehmen. Wird es damit automatisch zur Realität?
„Wirklichkeit ist reines Bewusstsein, das verbleibt, wenn Nichterkenntnis zusammen mit der Erkenntnis von Objekten verschwindet“. (Ramana Maharshi, 2011 S 19)
Die konstruktivistische Erkenntnistheorie geht davon aus, dass jeder Mensch seine ganz individuelle Wirklichkeit konstruiert. Paul Watzlawick nennt dies „Wirklichkeitsverzerrungen“ und Barthelmess Manuel „durch unterschiedliche Brillen sehen“. 
„Erkennen bedeutet nicht eine vom Erkennenden unabhängige Wahrheit gewinnen zu können“. (Klammer & Klar 1998, S72)
Die Neurobiologie meint, dass über die unterschiedlichen Sinnesebenen Informationen aus der Umwelt ausgewählt und an das Gehirn weitergeleitet werden. (Roth 2019) [1]. Dort werden die Informationen mit den bereits gemachten Erfahrungen verglichen, bewertet und interpretiert. Diese Wahrnehmungs- und Denkprozesse laufen zu 80% unbewusst ab.

 Von der großen Menge an Informationen, die uns tatsächlich zur Verfügung stehen, kann das menschliche Gehirn nur einen winzig kleinen Beitrag wahrnehmen. Der „Scheinwerfer der Aufmerksamkeit“ (Roth 2019) [2] fällt auf einen Ausschnitt, der zu 99% mit dem zu tun hat, was in dem Gedächtnis bereits vorhanden ist. Daher kommt zu dem bereits vorhandenen Datennetzwerk im Gehirn nur ca. 1 % an neuen Informationen hinzu. 

Die vom Gehirn erzeugte „Wirklichkeitskonstruktion“ (Graumann 1960) wird mit Gefühlen und Glaubenssätzen weiter gefüttert und gepflegt und dadurch aufrechterhalten. Damit erschafft man ein, noch realer wirkendes, Konstrukt (man hat es sich selbst nochmals bestätigt), welches entweder Halt, Sicherheit und Selbstbewusstsein vermittelt oder Unbehagen, Unsicherheit und Angst auslöst.

Außerdem hat das Gehirn die Eigenschaft, dass es schon aus wenigen Fragmenten ein vollständiges neues Bild gestalten kann, was einerseits von Vorteil ist, wenn wir bspw. lesen, weil es bereits aus wenigen Buchstabenfragmenten ein Wort konstruiert oder Bilderausschnitte wahrnehmen und daraus einen fertigen Raum konstruieren kann. Es wird aber andererseits auch zum Nachteil, wenn wir bspw. beim Kommunizieren oder Lesen durch das automatisierte Konstruieren des Gehirns eine Interpretation erhalten, die wir für echt halten. Das Gehirn vermittelt uns den Eindruck, dass es richtig interpretiert und somit verstanden wurde.

Wie entsteht eine Wirklichkeitsverzerrung?  

  1. Sobald unser Gehirn einen Fokus auf etwas legt, wird es schon zur Wirklichkeitsverzerrung, da wir unbewusst oder bewusst Sachinformationen hervorheben, herausholen, vermeiden oder übersehen – siehe auch Fritz B. Simon (2006) und Abbildung 1
  2. Sobald eine Sachinformation Bewertungen und Interpretationen erhält, wird es zu einer Wirklichkeitsverzerrung. Auch wenn eine andere Person oder eine Gruppe diese Meinung/Sichtweise teilt/bestätigt, bleibt es eine subjektive Wahrnehmung. Graumann (1960) nennt das das Einfärben von Sachinformationen „Wirklichkeitskonstruktionen“, welche er in 4 Stufen [3] einteilt.
  3. Sobald man bei einer Sachinformation Gefühle spürt, wird es zu einer Wirklichkeitsverzerrung. Jedes Gefühl wurde durch Gedanken, Glaubenssätze, Erinnerungen ausgelöst und ist somit „eingefärbtes wahrnehmen“.
Abbildung 1

Wie kann man sich der eigenen Wirklichkeitsverzerrungen bewusster werden?

Die Funktionsweise des Gehirns lässt sich nicht verändern, aber je bewusster man sich dieser ist, desto mehr kann man diese als Ressource zur eigenen Bewusstwerdung nutzen und dadurch einige seiner „Blinden Flecken“ aufdecken, unter anderem mit folgenden Hilfsmitteln:

  1. durch die Bereitschaft, die konstruktivistische Erkenntnistheorie [4] anzuerkennen oder mit dieser zu experimentieren (Angenommen, sie wäre wahr)
  2. durch Selbstbeobachtung der Gedanken und Gefühle und wie sie durch bestimmte Ereignisse entstehen
  3. unsere Bestätigungsgedanken und Gefühle verstärken/abmildern oder diese Gedanken und Gefühle loslassen und wieder aufnehmen. Die dadurch wahrgenommenen Unterschiede bewusst beobachten. Diesen Prozess mehrmals wiederholen.
  4. durch Beobachtung der eigenen Kommunikation und der Kommunikation anderer Personen. Was wird ausgesprochen, besonders hervorgehoben, übertrieben, verschönert, verstärkt, verharmlost oder wahrgenommen aber nicht ausgesprochen? Und was hat das für einen Einfluss auf die eigene Wahrnehmungsebene und die Wahrnehmungsebene der anderen Personen? 
  5. durch infrage stellen der Gefühle und Gedanken, die man gerade wahrnimmt. Ist es wirklich wahr? Wie waren meine Gefühle und Gedanken dazu noch vor einigen Stunden, Tagen, Wochen, Monaten oder Jahren?  Wie werden sie morgen in einem Jahr, zehn Jahren oder zwanzig Jahren sein? Was hat die Wahrnehmung jetzt „wahrer“ gemacht? Ein Gedanke? Ein Gefühl? Eine Aussage einer mir wichtigen Person? etc.
  6. statt Gedanken und Gefühle als gut oder schlecht zu bewerten, in den Modus hilfreich oder nicht hilfreich wechseln. Ist dieser Gedanke, dieses Gefühl jetzt hilfreich für mich?

 Fragen helfen, neugierig und offen zu bleiben. Neugier ermöglicht dem Gehirn auf größere Ressourcen zugreifen zu können und leichter andere Perspektiven zu erkennen. Neugier hilft auch, anderer Leute Perspektiven anzuhören und kennenzulernen und somit unsere Wahrnehmung zu vergrößern.

Näheres zur Gefühlsverarbeitung: „Erste Hilfe für Gefühlsverarbeitung I-III“

„Es ist nicht die „reale“ Welt, über die wir streiten, lachen oder weinen, sondern es sind diese Transformationen. Unsere Bedeutungsgebungen sind Fiktionen, wertvoll nützliche zwar, aber dennoch Fiktionen“ (Barnlund 1981, S. 95)

Quellen:

Barnlund, D.D. (1981) Toward an ecology of communication. In: C. Wilder and J.H.  Weakland (Eds); Rigor and Imagination: Essays from the legacy of Gregory Bateson. New York (Praeger)

Barthelmess, M. (2016) Die systemische Haltung: Was systemisches Arbeiten im Kern ausmacht, Kindle-Version

Graumann, C.F. (1960). Eigenschaften als Problem der Persönlichkeits-Forschung. In Ph. Lersch, F. Sander, H. Thomae (Hrsg.), Handbuch der Psychologie; 4. Band:  Persönlichkeitsforschung und Persönlichkeitstheorie. Göttingen.

Hüther, G. (2018) Wie Träume wahr werden, München, Arkana Verlag

Klammer, G. & Klar S. (1998) Wie erkenne ich? Epistemologische Grundlagen für systemische Therapie. In Brandl-Nebehay, A. & Rauscher-Gföhler, B. & Kleibel-Arbeithuber, J.: Systemische Familientherapie, Grundlagen, Methoden und aktuelle Trends. Wien: Facultas Universitätsverlag

Ramana, M. (2011) – Sei, was du bist! Die wichtigsten Lehren des großen indischen Weisen, O.W. Barth

Roth, G. (2019) Wie das Gehirn die Seele macht, Stuttgart, Klett Cotta

Simon F.B. (2015) Einführung in Systemtheorie und Konstruktivismus, Heidelberg, Carl-Auer

Watzlawick, P. (2018) Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Wahn, Täuschung, Verstehen, München, Piper Verlag

[1] „Alle Wahrnehmungen werden vom Beginn des Reizes an für 200 bis 300 Millisekunden oder sogar länger unbewusst verarbeitet, ehe sie ins Bewusstsein gelangen – sofern sie überhaupt die Bewusstseinsschwelle übersteigen.“ Roth (2019, S 233)

[2] „Aufmerksamkeit ist ein Zustand einer besonders aktiven und selbstreferentiellen“ corticalen Verarbeitung. Dies führt dann zu erhöhten Wahrnehmungsleistungen, einer intensiveren Verankerung im Gedächtnis und zum massiven Ausblenden von Vorgängen im Gedächtnis und zum massiven Ausblenden von Vorgängen außerhalb des >Scheinwerfers der Aufmerksamkeit>“ (Roth (2019, S 235)

[3]      4 Stufen der Wirklichkeitskonstruktion:

1. Tun Ebene oder Sachinformation
Beispiel: die Hose liegt am Bett
2. Adverbaler Modus – eine Interpretation (Bewertung) wird zur Sachinformation hinzugefügt Beispiel: die Hose liegt unordentlich am Bett
3. Adjektivistischer Modus – Es wird ein Rückschluss auf die Person gezogen
Beispiel: Maria/Max trägt unordentliche Hosen 
4. substantivistischer Modus – die Eigenschaftswörter werden zu Hauptwörtern umgewandelt und von der Person abgelöst
Beispiel: „die Unordentlichkeit ist ein Teil ihres Lebens“ wird als Bewertung hinzugefügt

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